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Gebundenheit und Ungebundenheit


Gebundenheit ist mein Lehrer:
„Gott lebt in einer Höhle“, lerne ich.
Ungebundenheit ist mein Lehrer:
„Gott lebt in einem Palast“, lerne ich.

Gebundenheit verlangt den Atem meines Körpers,
das Leben der heulenden Endlichkeit.
Ungebundenheit bietet das Versprechen meiner Seele an,
das Licht des winkenden Jenseits.


Gebundenheit ist die Wurzel der Begierde; Unwissenheit ist die Wurzel der Gebundenheit. In dieser Welt sind wir dem Körper, dem Verstand, der Lebenskraft und dem Herzen verhaftet. Warum? Weil wir besitzen wollen. Leider vergessen wir, dass es nichts auf Erden gibt, das wir für immer besitzen können. Wir können etwas nicht einmal für längere Zeit besitzen. Nehmen wir zum Beispiel den Körper. Unabhängig davon, wie viel Aufmerksamkeit wir ihm schenken, hält unser Körper lediglich fünfzig, sechzig oder siebzig Jahre und stirbt dann. Nicht einmal unseren eigenen Körper können wir für immer besitzen. Wenn wir im Körper leben und nach der Erfüllung des Physischen schreien, gibt es nichts auf Erden, das wir für immer besitzen könnten. Aber wenn wir in der Seele leben, dann leben wir im Ewigen und für das Ewige.

Indiens großer Philosoph Shankaracharya sagte: „Wer ist deine Frau, wer ist dein Sohn? Diese Welt ist sehr eigenartig. Brüder, denkt an den Einen, der ewig euch gehört.“ Dies ist die Botschaft der Ungebundenheit. Wenn du dem physischen Menschen verhaftet bist – der Ehefrau, dem Ehemann, dem Sohn, dem Freund – dann bindest du nur dich und die andern. Aber wenn du den Gegenstand deiner Verehrung im Innern der Ehefrau, im Innern des Ehemannes, im Innern des Sohnes siehst, dann kann das göttliche Wissen in dich einkehren.

Buddha verließ seine wunderschöne Frau und sein kleines Kind, als sie schliefen. Bevor er wegging, sagte er: „Ich habe euch geliebt. Ich liebe euch immer noch. Aber ich muss auch die ganze Welt lieben. Erst wenn ich die ganze Welt lieben kann, ist meine Liebe für euch vollendet.“ Seine menschliche Gebundenheit musste der göttlichen Liebe in ihm weichen. Als sie das Königreich verließen, stellt ihm sein Kutscher eine bedeutungsvolle Frage: „Bist du nicht gemein? Wie kannst du deine Frau, die dir so zugetan war, einfach zurücklassen? Du bist ihr Schatz. Du bist ihr unvergleichlicher Reichtum.“

Buddha sagte: „Das ist nicht wahr. Die Zuneigung meiner Frau hat mich gebunden, und meine Zuneigung hat sie gebunden. Jetzt gehe ich in die weite Welt, wo es niemanden gibt, der mich bindet, und wo ich niemanden binden werde. Ich werde mich selbst und andere befreien.“

Die Wurzel aller Gebundenheit ist Unwissenheit. Ist Unwissenheit unbesiegbar? Aldous Huxley sagte einmal: „Unwissenheit ist besiegbar. Wir wollen etwas nicht wissen, das ist der Grund, weshalb wir es nicht wissen.“ Er hat völlig Recht. Unwissenheit ist nichts Dauerhaftes und Unveränderliches. Wir können in den Atem der Unwissenheit eindringen und sie in Weisheit und Wissen verwandeln. Aber stattdessen verneinen wir die Existenz der Unwissenheit in uns. Das ist ein Fehler. Wir müssen die Tatsache anerkennen, dass wir im Augenblick voller Unwissenheit sind. Das heißt nicht, dass wir kein Licht in uns haben. Tief in uns ist ein wenig Licht, aber wir müssen dieses Licht zum Vorschein bringen und es wachsen lassen, um unsere eigene höchste Wahrheit zu verwirklichen.

Ein wirklicher Philosoph ist jemand, der ungebunden ist. Er allein kann die Schau der Wahrheit haben. Wenn er diese Schau einmal hat, kann er ohne weiteres gegenüber allem Erfolg und Misserfolg, Friede und Sorge, Vergnügen und Leiden, gleichgültig sein. Ungebundenheit bedeutet nicht, dass er der Welt nicht helfen oder von ihr keine Hilfe empfangen wird. Es bedeutet, dass er nicht an jene gebunden ist, denen er hilft oder die ihm helfen. Wenn wir gebunden sind, sind wir frustriert, wenn wir jedoch ungebunden sind, sind wir erfüllt. Wenn wir fühlen können, dass es Gott ist, der in uns und durch uns ebenso wie in der Welt und durch die Welt wirkt, dann können wir wirklich frei sein. Man sagt, vor der Heirat sei ein Mann das Bestreben einer Frau, und nach der Heirat sei er die Verzweiflung einer Frau. Aber wonach strebt die Frau? Sie strebt nach Erfüllung der Wünsche. Wenn der Gegenstand der Wünsche errungen ist, herrscht Enttäuschung und Frustration. Wenn wir irgendeinen unserer Wünsche erfüllen, werden wir erfahren, dass wir nicht die erwartete köstliche Frucht essen, sondern im Gegenteil eine zerstörerische, giftige Frucht.

Es gibt ein indisches Sprichwort: Wer den Delhi ka laddu (süßer Kuchen aus Delhi) gegessen habe, fühle sich angewidert, und wer ihn noch nicht gegessen habe, fühle sich übergangen. Das ist bei erfüllten und unerfüllten Wünschen immer der Fall. Die Erfüllung mag dem Wunsche folgen, aber es wird nicht jene Erfüllung sein, die uns Energie spendet und uns größere innere Kraft verleiht, damit wir das Richtige tun können. Im Gegenteil, sie wird lediglich das Wenige an Strebsamkeit, das wir bereits haben, zerstören.

Die Gebundenheit schwindet nicht mit dem Alter. Wir können die Gebundenheit nur durch Strebsamkeit besiegen. Um uns von der Gebundenheit zu befreien, müssen wir verschiedene Stadien durchlaufen. Wir müssen uns mit spirituellen Suchern zusammentun, die diese Bücher studiert haben und jetzt nach dem wirklichen Licht schreien, oder mit solchen, die in ihrem strebenden Leben bereits einiges Licht – in unbedeutendem oder beträchtlichem Ausmaß – empfangen haben. Wir müssen sehen und fühlen, dass in der gewöhnlichen Welt alles um uns herum Versuchung ist, dass wir ihr jeden Augenblick zum Opfer fallen können, und dass wir heldenhaft gegen sie kämpfen müssen. Wir müssen unsere Aufmerksamkeit vom physischen Bewusstsein und unserem körperlichen Verlangen weglenken. Wir müssen in die Welt des erweiterten Bewusstseins eintreten. Wir müssen die Notwendigkeit spüren, das göttliche Ziel zu erreichen. Wir müssen der Führung unseres inneren Piloten folgen. Unser innerer Pilot ist entweder Gott in der Form eines gottverwirklichten spirituellen Meisters oder Gott in Seiner eigenen unverkörperten Form.


Jene zu lieben, die uns lieben,
heißt, das Passende tun.
Jene zu lieben, die uns nicht lieben,
heißt, das Richtige tun.
Gott zu lieben, der uns immer liebt,
heißt, das Weise tun.

Wenn wir das Passende tun,
sind wir frei.
Wenn wir das Richtige tun,
sind wir sicher.
Wenn wir das Weise tun,
sind wir erfüllt.