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Die Bedeutung von Leid

Leid ist eine Erfahrung, die Gott in uns und durch uns macht. Es ist das Resultat unseres begrenzten Bewusstseins. Unbegrenztes Bewusstsein schenkt uns Freude und Glückseligkeit. Wenn wir etwas im Unendlichen erreichen, so sind wir erfüllt. Momentan jedoch leben wir im Endlichen und was wir dort erreichen, erfüllt uns nicht. Wer fünf Euro besitzt, möchte daraus zehn machen. Er leidet, weil er merkt, wie eingeschränkt er ist. Besitzt er schließlich zehn Euro, sieht er, dass jemand anderer zwanzig Euro besitzt, und wieder leidet er. Er ist in Aufruhr und überlegt hin und her, wie auch er zu zwanzig Euro kommen könnte.
Im Endlichen wird es immer Leid geben, weil wir uns mit anderen messen und versuchen, zu raffen und zu besitzen. Im Unendlichen hingegen gibt es kein Leid, denn sobald wir in das universelle Bewusstsein eintauchen, verschmilzt unser Wille mit dem universellen Willen. Im Augenblick versuchen wir die Welt mit unserem begrenzten Bewusstsein zufrieden zu stellen und die Welt wiederum möchte uns mit ihrem begrenzten Bewusstsein zufrieden stellen. Wir erlegen anderen Grenzen auf, sind aber gleichzeitig selbst begrenzt. Die wichtigste Erfahrung, die wir in dieser Welt machen, ist die Erfahrung von Begrenzung, und deswegen leiden wir.
Vom höchsten Standpunkt aus gesehen verkörpert Gott sowohl das begrenzte als auch das unbegrenzte Bewusstsein. Er ist zugleich das winzigste Insekt und der grenzenlose Kosmos. Er ist winzig klein und unermesslich groß, unendlich weit entfernt und unvorstellbar nah. Unvorstellbar nah für wen? Für den Sucher. Unendlich weit entfernt für wen? Für denjenigen, der Ihn nicht sucht.
Für diejenigen, die sich den Vergnügungen der Unwissenheit hingeben, ist Gott unendlich weit entfernt. Natürlich leiden diese Menschen. Ein Sucher jedoch, der zu Gott betet und auf Gott meditiert, spürt, dass er Gottes liebstes Kind ist. Betet er zu Gott, so fühlt er, dass Gott der Allwissende bei ihm ist und ihm zuhört. Meditiert er auf Gott, so fühlt er, dass Gott zu ihm spricht, und er hört Ihm zu. Wenn Gott und der Sucher einander zuhören, kann es kein Leid geben.


Wenn Gott so liebevoll ist, warum lässt Er uns dann leiden?

Sri Chinmoy: Durch unsere falschen Handlungen sind negative, ungöttliche, dunkle Kräfte geboren worden. Wenn diese Kräfte in uns eindringen, leiden wir. Doch was wir als Leiden oder als sündhaft, böse, ungöttlich oder dunkel bezeichnen, ist ebenso ein Teil von Gott. In allem und durch alles erfahren wir Gott. Erfahren wir Leid, so halten wir Gott sofort für grausam. Dies ist unsere menschliche Weise, Gott zu beurteilen. Gehen wir aber tief in uns, so erkennen wir, dass das, was wir Leiden nennen, in Wahrheit eine Erfahrung ist. Und wer macht diese Erfahrung? Gott selbst. Gott ist der Handelnde, Gott ist die Handlung und Gott ist das Ergebnis dieser Handlung.


Wenn du leidest,
so danke Gott dafür!
Denn nichts entgeht Seinem Blick
und Seinem Mitleidsherzen.


Unsere menschliche Natur betrachtet das Leid als etwas Schreckliches und Ungöttliches; unsere göttliche Natur hingegen sieht es als Gottes Erfahrung im Verlauf der kosmischen Evolution. Je höher wir emporsteigen, desto klarer erkennt unser menschlicher Verstand, dass alle Ereignisse auf dieser Erde Gottes Erfahrungen sind, die Er in und durch jeden Menschen macht. Im göttlichen Spiel des Lebens können wir die verschiedensten Aktivitäten beobachten; unzählige Kräfte sind zugleich am Werk. Es wird jedoch der Tag kommen, da die aufrichtigen Sucher die höchste Wahrheit erkennen und verwirklichen werden und ihre Zahl die Zahl jener Menschen übersteigen wird, die nicht spirituell streben. Zu diesem Zeitpunkt werden die ungöttlichen Mächte zurückweichen müssen.
Sobald ein Sucher aufgrund seines spirituellen Strebens bewusst ins Meer des Friedens und des Lichts eintaucht, wird er zu einem Teil von Gottes Willen. Dann macht er nicht mehr die gleichen Fehler, die gewöhnliche Menschen begehen. Leider ist es im Augenblick noch so, dass von einer Million Menschen vielleicht einer oder zwei nach Höherem streben, und von diesen sind wiederum nur sehr wenige in ihrem spirituellen Leben vollkommen aufrichtig.


Wir sind gekommen,
um Lieder der Freude
in dieser leidenden Welt
zu singen.


Die Welt bewegt sich auf das Licht zu, auch wenn dies nur sehr langsam geschieht. Das menschliche Leid wird ein Ende haben, weil Gott reine Glückseligkeit ist. Wir stammen von der Glückseligkeit ab. Auf Erden wachsen wir in der Glückseligkeit und am Ende unserer Seelenreise werden wir wieder in die Glückseligkeit eingehen. Diese Glückseligkeit wird für uns erfahrbar, wenn wir meditieren und beten.
Die meisten von uns beten oder meditieren nicht aufrichtig oder seelenvoll; darum bleibt die Glückseligkeit für uns in weiter Ferne. Meditieren wir jedoch seelenvoll und überantworten unseren Alltag bedingungslos dem Allmächtigen, unserem göttlichen Vater, dann wird die Glückseligkeit für uns zur täglichen Realität. Diese Glückseligkeit werden wir in jeder Sekunde spüren können. Selbst wenn unsere äußere Erfahrungen manchmal schmerzhaft oder zerstörerisch erscheinen mögen, so werden wir in unserem inneren Dasein doch untrennbar eins mit dem kosmischen Willen sein. In diesem Willen gibt es kein Leid. Das Leiden liegt im menschlichen Verstand und im Erdbewusstsein.
Wenn wir über das Erdbewusstsein hinausgehen, wenn wir dem Supreme unser gesamtes Dasein überantworten und zu einem untrennbaren Teil Seines kosmischen Willens hier auf Erden werden, erkennen wir, dass es so etwas wie Leid nicht gibt. Wir sehen lediglich eine Erfahrung, eine göttliche, kosmische Erfahrung, die Gott selbst in uns und durch uns macht.


Selbst im Leidensgarten unseres Herzens
wird eines Tages
die nach Blüten duftende
Freude des Göttlichen
zu blühen beginnen.


Helfen uns Schmerz und Leid in unserem spirituellen Leben?

Sri Chinmoy: Es herrscht die weit verbreitete Meinung, dass Leid, Drangsal und körperliche Schmerzen unser Wesen reinigen würden. Das entspricht jedoch nicht immer der Wahrheit. Viele Menschen leiden auf Grund ihres vergangenen Karmas oder weil sie von negativen Kräften angegriffen werden, aber sie nähern sich dadurch nicht ihrem Ziel. Nein! Um ihre Bestimmung zu erreichen, müssen sie spirituell aufrichtiger streben.
Wir sollten den Schmerz nicht begrüßen, sondern versuchen, ihn zu überwinden, sobald er sich einstellt. Wenn wir den Schmerz als Erfahrung betrachten können, wird es uns leichter fallen, ihn in Freude zu verwandeln, indem wir uns selbst mit der Freude identifizieren und diese danach in den Schmerz zu bringen versuchen. Es ist nicht nötig, Leiden zu erdulden, bevor wir in das Königreich der Glückseligkeit eintreten können. Viele Menschen haben Gott über die Liebe verwirklicht. Der Vater empfindet Liebe für sein Kind und das Kind liebt seinen Vater. Diese Liebe bringt uns an unser Ziel. Unsere Philosophie betont den positiven Weg, uns der Wahrheit zu nähern. Wir besitzen ein wenig Licht; lasst es uns also vermehren! Lasst uns von mehr Licht zu reichlichem und schließlich unendlichem Licht voranschreiten.


Tagtäglich benötigen wir Licht –
mehr Licht, reichlich Licht, unendliches Licht –
um unser Unwissenheitsleiden
zu erleuchten.


Kann Gott das Leiden in dieser Welt auslöschen?

Sri Chinmoy: Ja, Gott kann das Leiden in dieser Welt auslöschen und Er tut es auch. Doch wer wünscht sich dies schon mit aller Aufrichtigkeit? Wir alle benehmen uns wie Kamele. Ein Kamel frisst so lange die Stacheln der Kakteen, bis sein Maul zu bluten beginnt; wenig später jedoch frisst es die Stacheln wieder. Auf eine Weise, bewusst oder unbewusst, hat das Kamel eine Vorliebe für Stacheln. So klammern auch wir Menschen uns bewusst oder unbewusst an das Leiden. Und solange wir dies tun, wird das Leiden auch auf der Erde bleiben.


Gott wollte nicht wirklich,
dass das menschliche Leben
zur Hälfte aus Freude und Schmerz
bestehen soll!


Wenn wir leidvolle Erfahrungen machen und Fehler begehen, heißt das, dass der Supreme uns Seine Gnade entzogen hat?

Sri Chinmoy: Nein, auf keinen Fall! Es bedeutet nur, dass die Kräfte der Unwissenheit am Werk sind. Wenn ein Kind auf eine heiße Herdplatte greift, heißt das nicht, dass sich die Mutter weniger um ihr Kind kümmert. Im Gegenteil, sie ist äußerst besorgt um ihr Kind. Nur befindet sie sich gerade im oberen Stockwerk, während das Kind sich in die Küche geschlichen und die heiße Herdplatte berührt hat. Bedeutet das nun, dass sich die Mutter nicht um ihr Kind kümmert? Nein. Aber das Kind ist noch unwissend und hat keine Ahnung, welche Kraft im Feuer steckt.
Wenn wir etwas falsch machen, so liegt es entweder daran, dass wir es nicht besser wissen, oder weil wir einfach der Versuchung erliegen, es zu tun. Manchmal weiß ein Kind genau, dass es sich seine Finger am Herd verbrennen wird, und doch hat es eine Art hämische Freude daran, ihn trotzdem zu berühren. Auch wir lassen uns immer wieder auf die Unwissenheit ein, obwohl wir es eigentlich besser wissen müssten. Es ist wie beim Essen: obwohl wir spüren, dass wir satt sind, überessen wir uns. Wir sind unersättlich und müssen dann teuer dafür bezahlen.
Wenn wir bewusst oder unbewusst Opfer der Versuchung werden, heißt das nicht, dass uns Gottes Gnade verlassen hat. Im Gegenteil! Die Mutter mag ihr Kind zuvor warnen, die heiße Herdplatte zu berühren, und ihm zurufen: „Tu es nicht, tu es nicht!“ Kommt jedoch unsere Entschlossenheit nicht von innen, so haben wir das Gefühl, etwas zu versäumen, wenn uns die göttlichen Mächte davor bewahren wollen, etwas Falsches zu tun.
Wir sollten fühlen, dass uns nichts entgeht, wenn wir uns nicht auf die Unwissenheit einlassen, oder dass es auf Grund unserer Unwissenheit derzeit noch unvermeidlich ist, dass wir Fehler machen. Wenn wir im Licht leben, besteht keine Notwendigkeit, Fehler zu begehen. Wir sind nicht deshalb Opfer der Unwissenheit geworden, weil uns die göttliche Gnade entzogen wurde. Doch was kann die göttliche Gnade tun? Gott hat uns ein wenig Freiheit gewährt. Diese beschränkte Freiheit ist wie ein Messer. Der eine benützt es, um eine Mango in Stücke zu schneiden und sie mit anderen zu teilen; jemand anderer hingegen ersticht damit einen Menschen. Lasst uns die Fähigkeiten, die Gott uns verliehen hat, weise einsetzen.


Wenn du Gott wahrhaftig liebst,
wirst du unweigerlich fühlen,
dass dein Leben des Leidens
nicht gottgewollt ist.


Haben Unfälle jemals einen göttlichen Sinn?

Sri Chinmoy: Betrachten wir einen Unfall vom höchsten spirituellen Bewusstsein aus, so handelt es sich überhaupt nicht mehr um einen Unfall. Es ist lediglich ein Ereignis, eine Erfahrung, die Gott in einem und durch einen bestimmten Menschen macht. In der äußeren Welt jedoch, dem Bereich der Manifestation, sind es häufig negative Kräfte, die Unfälle herbeiführen. Manchmal heißt der Supreme diese Unfälle in keiner Weise gut, manchmal duldet er sie und manchmal befürwortet Er sie. Zur Zeit des Unfalls mag der Supreme das Gefühl haben, eine bestimmte Person könnte dadurch veranlasst werden, ein besseres, spirituelleres, bedeutsameres Leben zu führen. Jemand kann durch gewisse Lebensumstände oder Personen vielleicht so stark beeinträchtigt worden sein, dass für ihn danach ein neues Leben beginnen kann.
Betrachtest du das Ereignis mit deinen äußeren Augen, so erscheint es dir wie ein Unfall. Du musst jedoch wissen, ob Gott diesen Unfall herbeiführen wollte. Dient das Ereignis dazu, diesen Menschen zum Licht zu führen? Gott straft uns niemals. Er mag uns Erfahrungen schicken, doch wenn wir tief in uns gehen, erkennen wir, dass es in Wahrheit Gott selbst ist, der diese Erfahrungen macht. Wenn wir uns bewusst mit dem Willen des Supreme identifizieren können, dann gibt es so etwas wie einen Unfall nicht.


Was können wir tun, wenn uns das Leid ereilt?

Sri Chinmoy: Wir müssen das Beste daraus machen. Wir müssen es als unvermeidlich oder als Segen betrachten – als einen Segen in dem Sinn, dass wir daraus einen Vorteil oder einen Nutzen ziehen können. Dieser Nutzen besteht darin, dass wir denselben Fehler nicht immer wieder aufs Neue begehen werden.
Wenn wir leiden, müssen wir uns des Fehlers bewusst werden, den wir begangen haben. Damit kommt ein Reinigungsprozess in Gang. Das heißt aber nicht, dass wir Leid erdulden müssen, um Reinheit zu erlangen. Nein! Um Gott zu verwirklichen, ist Leiden nicht notwendig. Was wir dafür brauchen, ist Liebe zur Wahrheit, Liebe zum Licht. Wenn wir Licht in unser Wesen lassen und es in uns halten können, werden wir niemals leiden.


Warum musst du deine Schwierigkeiten
als negative Kräfte ansehen?
Betrachte sie doch einfach
als Gelegenheiten!
Siehe, schon vergrößern sie
deine inneren und äußeren Fähigkeiten!